Liebe Melanie, Dein erster Sohn ist im November letzten Jahres verstorben. Ben war schwerstbehindert. Wann fiel das zum ersten Mal auf und was war später die genaue Diagnose?

Mein Sohn Ben hat sich zu Beginn vollkommen normal entwickelt. Erst um den 8. Monat rum fiel mir auf, dass er gewisse Meilensteine nicht erreichte. Er konnte sich zwar drehen, aber konnte immer noch nicht sitzen oder krabbeln. Am Anfang hat das noch niemanden großartig besorgt. Bei einem Augenarzttermin fiel dann eine Veränderung auf der Netzhaut auf. Ein Bluttest enthüllte kurz darauf die grausame Wahrheit: Ben hatte Tay-Sachs, eine neurodegenerative Erkrankung. Diese Diagnose erhielten wir zwei Tage nach seinem ersten Geburtstag. Ein Gen-Defekt sorgt dafür, dass ein Enzym gar nicht oder zu wenig gebildet wird, welches dafür verantwortlich ist, dass Abfallprodukte im Gehirn abgebaut werden. Werden diese nicht abgebaut, sterben die Zellen Stück für Stück ab. Es gibt keine Medikamente, die das verhindern könnten.

Unser Sohn sollte also alles verlernen, was er bisher gelernt hatte – irgendwann würde er nicht mal mehr schlucken können, eventuell sogar taub und blind werden. Es hieß, er würde epileptische Anfälle bekommen und sich nicht mal mehr bewegen können. Im Schnitt werden die Kinder mit der infantilen Form, die mein Sohn hatte, nur 2-3 Jahre alt. Wir waren nach dieser Diagnose am Boden zerstört. Natürlich war da die Angst, was alles auf uns zukommen würde und ob wir das schaffen würden. Aber das Gefühl, nichts dagegen tun zu können, war noch schlimmer.

Eine harte Zeit für Euch und trotzdem habt Ihr Euch für ein zweites Kind entschieden. Wie lange habt Ihr für diesen Schritt gebraucht?

Es hat eine Weile gedauert, bis wir den Gedanken an ein zweites Kind überhaupt zugelassen haben. Wir wollten auf keinen Fall, dass ein zweites Kind sich irgendwann wie ein Ersatz anfühlen könnte. Mittlerweile ist die Forschung auf dem Gebiet aber so weit, dass wir die Hoffnung hatten, dass Ben es doch schaffen könnte. So beschlossen wir, das zweite Kind zu bekommen, so lange wir noch nicht wissen, wie es mit Ben ausgeht. Wir haben uns also unabhängig von dem Schicksal unseres ersten Sohnes für ein zweites Kind entscheiden und das fühlte sich richtig an.

Ihr habt Euch dann für den Weg der Präimplantationsdiagnostik entschieden. Warum und wie funktioniert das genau?

Bei Tay-Sachs handelt es sich um eine Erbkrankheit, die rezessiv vererbt wird. Das bedeutet, ich habe ein mutiertes Gen und mein Mann auch und nur, wenn das Kind beide mutierten Gene bekommt, ist es auch betroffen. Die Wahrscheinlichkeit liegt jedes Mal bei 25%. Bei der Präimplantationsdiagnostik werden die Eizellen mittels künstlicher Befruchtung befruchtet und bis zur Blastozyste weiterentwickelt. Dann werden Gewebeproben entnommen und untersucht. So weiß man vorher, dass das Kind gesund ist, bevor man es eingesetzt bekommt und es zu einer Schwangerschaft kommen kann.

Die Alternative wäre gewesen, schwanger zu werden und eine Fruchtwasseruntersuchung zu machen und dann gegebenfalls einen Abbruch vornehmen zu lassen. Das hätte ich aber nicht gekonnt. Denn ein krankes Kind wäre immernoch ein Kind wie Ben gewesen. Und Ben war einfach nur toll.

Wie hast Du diese zweite Schwangerschaft dann erlebt? 

Die ersten Monate hatte ich schon große Angst, dass etwas schief geht, weil ja immer was passieren kann. Diese Angst hatte ich in der ersten Schwangerschaft nicht. Da hatte ich immer dieses „uns trifft sowas schon nicht“-Gefühl. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass mein Sohn Tay-Sachs hat, lag auch bei 320.000:1…Wenn einmal so ein unwahrscheinlicher Fall eintritt, verlässt einen dieses Gefühl, dass die schlimmen Dinge einen selbst schon nicht passieren werden…

Du warst im vierten Monat schwanger, als Ben gestorben ist. Kannst Du uns von dieser Zeit erzählen?

Ben starb sehr plötzlich und unerwartet. Das mag bei einem so kranken Kind komisch klingen. Aber auch bei so seltenen Erkrankungen wie Tay-Sachs gibt es typische Verlaufsformen und Ben war noch sehr fit. Er konnte sich noch einigermaßen bewegen und artikulieren, konnte sogar noch Mama sagen, obwohl das viele Kinder mit Tay-Sachs niemals können. Ben hatte zwar bereits eine Magensonde, konnte aber kleine Mengen normal essen, er brauchte weder Sauerstoff, noch musste Speichel abgesaugt werden. Auch die epileptischen Anfälle hatten wir einigermaßen im Griff – das dachten wir jedenfalls. Denn Ben ist an einem eplieptischen Anfall gestorben,  an einem normalen Sonntagmorgen.

Nach Bens Tod war nichts mehr wie vorher, es war eine sehr schwere Zeit. Die Schwangerschaft lief nur noch nebenher. Ich wollte einfach nur meinen Sohn zurück. Ich hatte große Probleme, mich auf das neue Kind emotional einzulassen. Es war allein der Kopf, der mir immer wieder sagte, ich dürfe nicht aufgeben, müsse essen, trinken, etc, weil ich einfach auch noch Verantwortung für das Ungeborene hatte.

Im April kam Leo dann zur Welt…

Ja, die ganze Schwangerschaft über begleitete mich diese Angst, ob ich mein zweites Kind – wieder ein Junge – jemals genauso lieben könnte wie Ben. Die Geburt war dann auch sehr anstrengend, wir mussten ihn auf einmal schnell holen, weil ich eine Cholestase entwickelt hatte. Es war spät abends, die Narkose breitete sich zu weit aus, da brauchte ich einen Moment, um mich ganz darauf einzulassen, dass er jetzt da war. Aber schon am nächsten Morgen waren wir „angekommen“ und ich empfand die selbe Liebe für ihn wie ich sie für Ben empfinde.

Wie präsent ist Ben jetzt in Eurem Alltag?

Ben ist jeden Tag präsent. Wie vergleichen unsere Jungs, wie man das auch mit gesunden Kindern machen würde. Wir erzählen Leo viel von seinem großen Bruder. Und das wollen wir auch so beibehalten. Wir reden auch noch viel mit Ben. Er wird immer ein wichtiger Teil von uns bleiben.

Wie geht es Dir heute?

Ich bin einigermaßen ok. Leo hier zu haben, hilft wirklich, auch wenn er Ben nie ersetzen wird – aber das soll er ja auch nicht. Wir haben unsere Familie hinter uns und wir haben die anderen Familien, die von dieser Krankheit betroffen sind, und die mittlerweile auch zu Familie geworden sind, an unserer Seite. Kurz nach der Diagnose haben wir uns dem Verein Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland angeschlossen.

Über das Europäische Tay-Sachs und Sandhoff Consortium (ETSSC) sind wir mit Selbsthilfegruppen in ganz Europa verbunden und unterstützen die Familien und die Forschung über Spenden etc. Und die Forschung ist auf einem guten Weg. Als wir die Diagnose erhielten, gab es nichts. Mittlerweile gibt es einige Ansätze, Medikamentenstudien, die kommen werden und eine Studie zur Gen-Therapie, die die Heilung bedeuten würde, steht quasi in den Startlöchern. Keiner von uns wird aufgeben, bis irgendwann kein Kind mehr an dieser grausamen Krankheit sterben muss. Der gemeinsame Kampf gegen die Krankheit und Leo geben mir täglich Kraft.

Das Interview erschien in dem Blog stadtlandmama.de