Die Heilbronner Stimme berichtet über Ensar Ali, seine Familie und unseren gemeinsamen Kampf gegen Tay-Sachs und Morbus Sandhoff.

Hier die ungekürzte Originalversion der Geschichte von Ensar Ali

Von Folker Quack

Auf den ersten Blick haben die beiden Mütter, die sich am Sandkastenschiff in der Heilbronner Fußgängerzone treffen, nicht viel gemeinsam. Rabia Karakelle mit ihrem knallroten Schleier und ihrem schwarzen Umhang und Birgit Hardt in enger Jeans und den langen blonden Haaren. Doch die beiden Mütter eint ein schlimmes Schicksal: Ihre Söhne Ensar Ali und Dario leiden an einer sehr seltenen Stoffwechselstörung. Ärzte nennen sie nach ihrem Entdecker Morbus Sandhoff. Wie auch  Tay-Sachs ist die eine GM-2-Gangliosidose. Rabia und Birgit wissen inzwischen genau, was diese Diagnose bedeutet: Die Krankheit raubt ihren Kindern nach und nach alle erworbenen Fähigkeiten. Die Lebenserwartung ist gering. Heilung gibt es keine. Nur ein medizinisches Wunder kann Ihre Söhne noch retten.

Gemeinsam wollen die beiden Mütter kämpfen, um ihre Söhne zu retten, um diese schreckliche Krankheit zu besiegen, um andere Betroffene zu finden und der Krankheit eine Lobby zu geben. „Im vergangenen Jahr sind wir bei drei Studien an Wirkstoffen, die helfen könnten, nicht berücksichtigt worden“ sagt Birgit Hardt etwas verzweifelt. „Weil wir so selten sind“, heißt es oft, dabei seien längst nicht alle Patienten richtig diagnostiziert, andere zögen sich mit ihrem Schicksal zurück. Birgit Hardt gründete deshalb mit ihrem Mann Folker Quack den Verein „Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland e.V.“ Rabia war die erste Türkin, die ihm beitrat.

Rabia Karakelle wohnt mit ihrem Mann Hüssam und ihrer gesunden Tochter Ecrin in der Heilbronner Altstadt. Sie gehört zur zweiten Generation türkischer Emigranten, ihre Eltern kamen 1979 an den Neckar. Ihren Mann lernte sie in Istanbul kennen, wo der andere Teil ihrer Familie heute lebt. Einige Zeit wohnte sie selbst dort, doch sie bekam Heimweh nach Heilbronn, nach ihren Eltern und den vier Geschwistern. So zog das Paar 2013 zurück nach Heilbronn, Hüssam fand Arbeit, 2015 erblickte Ensar Ali wie seine Mutter in Heilbronn das Licht der Welt.

Doch die große Freude über den Stammhalter wich schnell Ängsten und Sorgen. Beim Ein-Monats-Screening war der Test auf die Lungenkrankheit Mukoviszidose positiv und die Ärzte hörten unübliche Herzgeräusche. Die Familie war geschockt. Doch der zweite Test war negativ und die Herzgeräusche verschwanden bis zum sechsten Monat von allein. Und auch sonst entwickelte sich Ensar einigermaßen gut. „Er war halt viel gemütlicher als seine Schwester damals“, sagt Rabia Karakelle.

Dann die „U5“, die Vorsorgeuntersuchung, die bei Kindern ab einem halben Jahr im Terminkalender steht. Die Kinderärztin schaute besorgt, Ensar sei doch sehr in der Entwicklung zurück. Sie empfahl Krankengymnastik und einen Termin im Sozialpädiatrischen Zentrum der Uniklinik Heidelberg. Es folgten Monate des Hoffens und Bangens. Die Ärzte suchten nach einer Ursache für Ensars Entwicklungsverzögerung, die Familie freute sich auch über den kleinsten Fortschritt, den Ensar machte. „Immer wieder wurde ich gefragt, ob er Rückschritte macht“, erzählt Rabia, „aber er machte doch Fortschritte“. Ensa brabbelte, begann sich aufzustützen. „Schau, bald krabbelt er“, war sich Papa Hüssam sicher. Aber er krabbelte nicht.

Dann der Anruf vom Sozialpädiatrischen Zentrum. Rabia Karakelle wird diesen Tag ihr Leben lang nicht vergessen. Früh um acht rief die Sekretärin an, ob die Familie um 15 Uhr kommen könne. Rabia wusste sofort, da stimmt was nicht. Eine Mutter spürt das. Sie fragte, was sei, aber die Sekratärin durfte keine Auskunft geben. „Ist es was schlimmes? Können wir den Termin vorverlegen, ich halte das nicht aus?“ 14 Uhr würde auch gehen. Rabia war verzweifelt. Ihr Mann musste arbeiten; wollte seinen nur befristeten Job nicht gefährden. Die eigenen Eltern wollte sie nicht mitnehmen, die seien viel zu emotional für eine solche Situation. Denn Rabia spürte im ganzen Körper, es gibt keine guten Nachrichten. Sonst hätten sie das auch telefonisch machen können.

Mit einer guten Freundin ging sie zum Termin. Der Arzt sah sie mit ernster Miene an, Rabia zitterte am ganzen Körper. „Wir haben die Ursache gefunden, Ensar Ali hat eine GM-Gangliosidose vom Typ Sandhoff.“ Dann begann er die Krankheit zu erklären. Doch Rabia konnte nicht zuhören, konnte sich nicht konzentrierten. „Gibt es eine Therapie“, fragte sie. „Gibt es eine Heilung?“ „Leider nicht“, sagte der Arzt. Die Frage, wie lange Ensar noch zu leben habe, wollte er nicht beantworten. Niemand könne das wissen, das sei von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Leise fügte er hinzu: „rein statistisch liegt die Lebenserwartung bei frühkindlichen Sandhoff-Fällen bei 4 bis 6 Jahren.“ Rabia wollte nichts mehr hören, sie konnte nicht mehr.  Man vereinbarte einen neuen Termin.

Völlig fertig kam sie nach Hause. Ensar, von ihrer Mutter betreut, lag im Bettchen und brabbelte fröhlich vor sich hin. Ihre Mutter glaubte ihr nicht, „die Ärzte können sich irren, Ensar wird gesund, wir müssen nur genug für ihn beten“, war sie sicher. Ensars Papa war da weniger optimistisch. „Es ist unser Schicksal, wir müssen es hinnehmen, wir müssen diesen Weg mit Ensar gehen.“ Rabia war erstaunt über die Abgeklärtheit ihres Mannes, zwei Tage später überraschte sie ihn allein im Wohnzimmer. „Es war das erste Mal überhaupt, dass ich meinen Mann weinen sah.“

So lange es geht, wollen wir uns die Zeit mit Ensar so schön wie möglich machen, sagt Rabia Karakelle, doch diesen Winter waren sie viel in Krankenhäusern. Immer wieder ging es Ensar schlecht. Nach der Diagnose reisten sie für drei Wochen in die Türkei. Ensar der Familie vorstellen, ihm seine ursprüngliche Heimat zeigen. Am Meer war er am glücklichsten und sehr zufrieden, freut sich Rabia. Und auch die kleine Ecrin genoss diesen außerplanmäßigen Urlaub. Die sechsjährige kommt dieses Jahr zur Schule. Doch sie wirkt schon viel reifer. „Am Anfang schwankte sie zwischen Trauer und Wut, weil die Eltern sich viel um den kranken Bruder kümmern mussten“, so Rabia. Dann malte sie ein Bild, dass ihre Eltern heute noch zu Tränen rührt: In der Mitte eine weinende Ecrin, links der Vater mit dem toten Ensar Ali auf dem Rücken. Auch der Vater weint. Rechts die Mutter, mit einem dicken Bauch und ein Arzt. Die Mutter lacht. Jetzt weiß Rabia, wie sehr sich ihre Tochter noch ein Geschwisterchen wünscht. „Ja“, strahlt Ecrin, „dann muss das Mädchen in der Mitte auch nicht mehr so viel weinen.“

Gerne tauschen Rabia Karakelle und Birgit Hardt Erfahrungen mit der Krankheit aus. Bei einem solchen Schicksal spielen kulturelle Unterscheide keine Rolle. Vieles erleben sie genau gleich. Freunde, die sich nicht mehr melden, weil sie glauben man habe mit einem kranken Kind eh keine Zeit, Mütter, die die Krankheit nicht akzeptieren können. Und doch ist Birgit angetan, vom Zusammenhalt der türkischen Großfamilie. Jedes Mal, wenn sie sich mit Rabia trifft, kommen Teile der Großfamilie dazu. Mal die Geschwister, mal die Mutter. Sogar die Großeltern von Rabia Karakelle wollen jetzt ein paar Monate aus der Türkei nach Heilbronn kommen, um zu helfen. „Ja, wir stehen da alle zusammen“, sagt Rabia, „jeder schaut, was er für uns tun kann.“

Während die beiden Mütter sich austauschen, spielt Ecrin mit Dario im Sandkastenschiff. Dario ist sieben Jahre alt, kann an der Hand geführt noch etwas laufen, vor allem aber krabbeln. Mit Ecrin und den anderen Kindern hat er viel Spaß. „Wird Ensar Ali mal wie Dario?“, fragt Ecrin ihre Mutter. Doch das ist leider unwahrscheinlich, denn Dario hat einen jugendlichen Verlauf der  Krankheit. Durch eine Restaktivität der geschädigten Enzyme brach die Krankheit bei ihm später aus und verläuft langsamer.

Nach der Familie sei das mobile Palliativteam aus Heilbronn die zweite große Stütze. Einmal pro Woche kommt das Team, berät die Familie, untersucht Ensar Ali und stellt medizinische Hilfsmittel zur Verfügung. Das spart manchen Krankenhausaufenthalt. Die dritte große Stütze sei der Verein „Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland“. Auf der Suche nach Informationen über die Krankheit ihres Sohnes fand Rabia Karakelle die Homepage des Vereins im Internet. Gleich nahm sie Kontakt auf. Kurze Zeit später kamen Birgit Hardt mit Dario zum ersten Mal zu Besuch. Die Familie wohnt in Würzburg, der Weg ist nicht weit. Durch den Verein komme ich in Kontakt zu anderen betroffenen Müttern, sagt Rabia. Es tue so gut mit diesem schlimmen Schicksal nicht alleine zu sein. Mit insgesamt 19 betroffenen Familien steht der Verein aktuell im Austausch, einmal im Jahr lädt er alle Familien zu einem deutschen Familientreffen ein. „Über den Verein habe ich Kontakt zu einer weiteren Mutter mit einem frühkindlichen Sandhoff-Kind und zu einer Kurdin aus Mannheim, deren Tochter wie Dario die jugendliche Verlaufsform hat.“  Insgesamt vier türkische oder kurdische Familien stehen mit dem Verein in Kontakt. Da nicht alle so gut deutsch wie Rabia Karakelle sprechen, will sie dem Verein bei der Kommunikation mit diesen Familien helfen.

„Und die Krankheit bekannter machen“, ergänzt Birgit Hardt. Der Verein stehe in ständigem Kontakt mit Forschern und der Pharmaindustrie, um keine Chance ungenutzt zu lassen, die Krankheit zu besiegen. Und es gebe erste Erfolge. Eine Gentherapie in England sei nicht mehr weit von klinischen Studien entfernt, es gebe Wirkstoffe, die den Krankheitsverlauf verlangsamen könnten. Wir müssen zeigen, dass wir gar nicht so wenige sind, sagt Birgit Hardt, nur dann haben wir eine Chance bei der Forschung und vor allem der Pharmaindustrie. Im Juni werden einige deutsche Familien, darunter die Karakelles nach London fliegen, um bei einer europäischen Familienkonferenz Professor Timothy Cox zu treffen. Er ist der einzige Forscher in Europa, der intensiv an den GM-2-Gangliosidosen Tay-Sachs und Sandhoff forscht und die Gentherapie vorantreibt. Flug und Hotel in London könnte sich die Familie nicht leisten.  Auch hier hilft der Verein „Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland“.

Ob Ensar Ali das alles noch hilft? Rabia Karakalle hebt traurig ihre Schultern. „Ich fürchte, es kommt zu spät, wir werden ihn gehen lassen müssen. Aber ich werde weiter in dem Verein kämpfen, bis wir gemeinsam diese Krankheit besiegt haben.“

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