Mit dieser Geschichte zum Tag der Seltenen Erkrankungen am 28.02.2015 in der MAIN-POST starteten wir die Aktivitäten des Vereins „Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff“:
„Wir werden den Kopf nicht senken“
Tag der Seltenen Erkrankungen: Der fünfjährige Dario aus Unterfranken leidet an einer extrem seltenen Stoffwechselstörung. Seine Eltern berichten, wie man sich fühlt, wenn das eigene Kind eine ungewisse Zukunft hat.
Der Arzt senkt den Kopf. Er kann uns in diesem Moment nicht ansehen. Er weiß, dass das, was er uns gleich zu sagen hat, unser Leben komplett verändern wird. Er weiß, dass er auch die kleinste unserer Hoffnungen mit einem Satz für immer zerstören wird. „Es ist ein Sandhoff“, murmelt er – „aber die juvenile, die mildere Form“, fügt er rasch hinzu. Wir sehen uns in die Augen, sehen Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit, bevor die Tränen alles wegschwemmen. Wir fühlen uns schrecklich elend und schrecklich allein.
Allein mit unserem Sohn, mit dieser Diagnose, über die wir schon im Internet gelesen hatten, als der Verdacht in diese Richtung ging. Morbus Sandhoff ist eine schreckliche Krankheit, die durch einen Gendefekt ausgelöst wird. Die meisten betroffenen Kinder entwickeln sich in den ersten Lebensmonaten völlig normal, verlieren dann aber nach und nach alle bereits erlernten motorischen Fähigkeiten: Laufen, so sie es schon konnten, sitzen, irgendwann können sie nicht mal mehr ihren Kopf heben. Nicht mehr essen, nicht mehr schlucken, nie mehr lächeln. Viele erblinden, andere werden taub. Und so endet auch Darios Arztbrief zur Diagnose mit den Worten „Prognose infaust“. Damit drücken Mediziner aus, dass eine Chance auf Heilung extrem unwahrscheinlich ist.
„Nehmen Sie es hin, suchen Sie nicht nach den Ursachen.“
Unser Sohn Dario war ein Wunschkind, kam scheinbar kerngesund zur Welt und begann sehr früh, unwiderstehlich süß zu grinsen. Nur mit dem Rest seiner Entwicklung ließ er sich von Anfang an Zeit. Köpfchen heben, drehen, krabbeln, laufen – Dario war immer ganz am Ende der Skala. Seine Mama begann sehr früh, sich große Sorgen um ihren einzigen Sohn zu machen, verstanden wurde sie so richtig von niemandem. „Geben Sie dem Kind Zeit“, war der häufigste Ratschlag. Kinderarzt, Frühförderstelle, Frühdiagnosezentrum, immer neue Untersuchungen, immer neue wohlmeinende Ratschläge. „Nehmen Sie es hin, suchen Sie nicht nach den Ursachen.“
Dario bekam seine erste Physiotherapie und machte mit 18 Monaten und zwei Wochen die ersten eigenen Schritte. Ein Jahr später begann Dario immer häufiger zu stürzen. Noch während die Ärzte intensiv nach der Ursache suchten und hinter seinen Stürzen epileptische Anfälle vermuteten, verlor Dario von Tag zu Tag seine motorischen Fähigkeiten. Erst konnte er nicht mehr laufen, dann nicht mehr sitzen. Jeden Tag ging es ihm etwas schlechter und die Gesichter der Ärzte, in die wir blickten, wurden immer sorgenvoller.
„Ihr Kind wird nie mehr laufen, wird blind, taub und sterben.“
Unsere Geschichte am 28.02.2015 in der Main-Post
Schließlich landeten wir in einer Spezialklinik für neurologische Kinderkrankheiten. Dario war mit seiner Mama alleine, als nach einer Woche der Oberarzt ins Zimmer kam und sagte: „Ihr Kind wird nie mehr laufen, wird blind, taub und sterben.“ Dann hat er die Klinikpsychologin ins Zimmer geholt. Was kann die einer Mutter sagen, die in diesem Moment am liebsten ihren Sohn in den Arm genommen hätte, um mit ihm gemeinsam zu sterben?
Doch Dario begann Fortschritte zu machen. Die Ärzte räumten ein, sich vielleicht getäuscht zu haben, der Untersuchungsmarathon wurde wieder aufgenommen. Am 1. Dezember, nach fünf langen Wochen, verließen wir auf eigenen Wunsch die Klinik. Wir hatten noch kein Ergebnis, aber auch keine Kraft mehr. Wir wollten Weihnachten, wollten den Advent daheim verbringen. Vielleicht würde es ja das letzte Weihnachten mit unserem Sohn sein.
Am zweiten Tag zu Hause hatte Dario keine Anfälle mehr, kurz vor Weihnachten begann er wieder zu laufen – es war unser bisher schönstes Weihnachtsgeschenk. Ein halbes Jahr später bekamen wir die Diagnose. Mit ihr kam die Epilepsie zurück. Vor allem nachts wird Dario immer wieder von Anfällen aus dem Schlaf gerissen und braucht unsere Hilfe. Mal wieder Durchschlafen wäre ein Traum, Müdigkeit wird zum ständigen Begleiter.
Sind wir eigentlich noch eine Familie?
Doch nicht nur deshalb hat sich unser Leben verändert. Vieles, aber nicht alles, dreht sich um Dario und seine Horrorkrankheit. Einige Menschen konnten da nicht mit – in der Familie, im Freundeskreis. Dafür kamen andere dazu – über Selbsthilfegruppen und weil man einen Blick für außergewöhnliche Schicksale bekommt.
Sind wir eigentlich eine Familie? Ja! Vater, Mutter und Kind haben wir zu bieten, auch Omas und Opas, Tanten und Onkels. Es gibt Hilfe und Unterstützung, aber nicht immer Verständnis – und das ist auch sehr schwer. Denn wir sind eine Familie und gehören doch nicht dazu. Kindergarten – Schule – Studium – „aus dem Jungen wird mal was!“ – Sportverein – Kindergeburtstag – Fußball mit dem Opa spielen: Diesbezüglich sind wir schrecklich frei von Erwartungen. Das sind nicht unsere Perspektiven, wir haben andere Prioritäten.
Das zu verstehen, ist nicht immer leicht, fällt es uns doch selber oft so unsagbar schwer. Viele trauen sich erst gar nicht, uns anzusprechen. Und auf die Frage – geht es Euch gut? – ist es auch leichter einfach „Ja“ zu sagen anstatt zu begründen, warum nicht. Und wer möchte das dann wirklich hören? Mit Floskeln können wir so gar nichts mehr anfangen. Wie lautet doch die häufigste, wenn es um Kinder geht: „Hauptsache gesund“, und wenn nicht? Ist dann die Hauptsache schon verloren?
Wir versuchen, jeden Tag mit unserem Sohn zu genießen
Viele Menschen haben Angst oder wollen das unnormale, wollen Krankheit und die Endlichkeit des Lebens am liebsten gar nicht an sich heranlassen. Darum fühlen wir uns inzwischen auch in der Gemeinschaft mit anderen betroffenen Eltern am wohlsten. Doch davon gibt es zum Glück nicht sehr viele. Darios Krankheit ist extrem selten. Statistisch gesehen kommt auf 130.000 Geburten ein Sandhoff-Fall. Das sind dann zu circa 80 Prozent infantile Verläufe. Durch den Gendefekt funktionieren zwei für den Stoffwechsel nötige Enzyme nicht. Die Krankheit bricht im ersten Lebensjahr aus, älter als vier Jahre werden die wenigsten.
Dario hat eine spät-infantile oder juvenile Form. Die betroffenen Enzyme haben eine Restaktivität, die therapeutisch noch unterstützt werden kann. Angeblich leben derzeit gerade einmal 30 Kinder weltweit mit diesem Verlauf der Krankheit. Der kann unterschiedlicher nicht sein, keiner kann uns sagen, wie es bei Dario weitergeht. Also versuchen wir, jeden Tag mit unserem Sohn zu genießen.
Dazu mussten wir erst lernen: Das Tempo seines Lebens gibt Dario ganz alleine vor! Dario wird jetzt in der Villa Metabolica in Mainz behandelt, eine Sonderabteilung für lysosomale Krankheiten an der Uni-Kinderklinik. Circa 800 Patienten werden dort aktuell betreut. Dario ist auch hier der erste mit einer juvenilen Form von Morbus Sandhoff.
Die Zeit ist unser Feind
Timothy Cox aus Cambrigde ist der einzige Professor in Europa, der Sandhoff und die sehr ähnliche Krankheit Tay-Sachs erforscht, an Medikamenten und an einer Gentherapie arbeitet, die den Krankheitsverlauf zumindest stoppen könnte. Aktuell rechnet er damit, seine Gentherapie im Jahr 2016 an den ersten Patienten testen zu können. Wird Dario bis dahin durchhalten? Werden wir ihn stabil genug für diesen Eingriff halten können?
Alles, was die Krankheit bis dahin zerstört, ist irreversibel. Verzögert sich der Therapiestart noch einmal? Die Zeit ist unser Feind! Wir wollten Professor Cox persönlich kennenlernen, wollten, dass Darios Lachen und sein Charme sich in sein Gedächtnis eingraben – und das hat Dario geschafft. Im Herbst 2014 trafen sich Professor Cox und zwölf betroffene Familien aus ganz Europa vier Tage zum Austausch im Disneyland bei Paris.
Unter ihnen der ebenfalls fünfjährige Rodrigo mit seiner Familie aus Mallorca, der dieselbe Diagnose wie Dario hat. Wie Dario kann er noch laufen, spielen und lachen. Aber wir lernten auch Kinder kennen, bei denen die Krankheit schon weit fortgeschritten ist, die mit einem schwereren Verlauf zu kämpfen haben, die ihr Kinderlächeln schon unwiederbringlich verloren haben. Viel Leid, aber auch viel Liebe. Viel Kummer, aber auch viele engagierte, kämpferische und verständnisvolle Eltern und Freunde.
Das Gefühl des Alleinseins ist mit das schlimmste
Für sie und mit ihnen wollen wir kämpfen und anderen betroffenen Eltern in Deutschland die Chance geben, Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Darum haben wir nach den Vorbildern in England, Spanien, Frankreich und Österreich eine deutsche Selbsthilfegruppe gegründet. Denn das Gefühl des Alleinseins ist mit das schlimmste, wenn man eine derartige Diagnose bekommt.
Als Gruppe können wir zudem verhindern, dass diese so seltenen Krankheiten als grausame Einzelschicksale abgetan werden. Dario hätte viel früher die richtigen Medikamente bekommen können, wenn seine Erkrankung bekannter gewesen und dadurch früher erkannt worden wäre. Bis heute kann uns keiner erklären, warum Dario so untypisch für seine Erkrankung wieder aufgebaut hat.
Dario will auch mit gesunden Kindern spielen
Ohne den Zusammenbruch hätten wir vielleicht noch immer keine Erklärung für das Besondere an unserem Sohn. Wir kämpfen! Und das nicht nur, um die beste medizinische Versorgung zu bekommen.
Dario hat sich motorisch und kognitiv nicht altersgemäß entwickeln können, spricht nur wenig. Er braucht Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie. Wir gehen mit ihm reiten und in die Musikschule.
Trotzdem wollten wir, dass er weiter in seinen ursprünglichen Kindergarten geht, wir wollten Inklusion, weil Dario dann am glücklichsten ist. Wir haben die Alternative ausprobiert, waren im Körperbehindertenzentrum, als es Dario extrem schlecht ging. Er wurde dort optimal betreut, therapiert und mit viel Liebe aufgenommen. Doch erst als wir zum ersten Mal zu Besuch in seinem alten Kindergarten waren, war dieses unwiderstehliche Grinsen wieder da.
Dario will auch mit gesunden Kindern spielen, sogar wenn sie ihm weit voraus sind und sich manchmal über ihn lustig machen. Dario veräppelt sie auch. Die aktivsten und wildesten Kinder sind seine besten Freunde. Manchmal überkommen uns die Tränen, wenn wir Dario morgens in seine Kita bringen und zwei, drei Kinder begrüßen ihn freudig, erzählen, was für Quatsch sie gestern mit ihm gemacht haben, wollen ihm helfen. Wir dürfen ihm Schuhe und Jacke dann nicht ausziehen. Kinder sind so unkompliziert, so hilfsbereit, sie sind einfach da und helfen, weil es ihnen Spaß macht.
Wir müssen stark sein, dürfen nicht nachgeben
Es war nicht leicht, Dario in seinen alten Kindergarten, der bis dahin kein Integrationskindergarten war, zurückzubringen. Dario braucht eine 1:1-Betreuung und hatte ja seinen Platz im Behindertenzentrum. Der Bezirk muss einen Teil der zusätzlichen Betreuungskosten übernehmen. Da gilt es, Überzeugungsarbeit zu leisten. Manchmal zermürbend, als ob wir mit unserem kranken Kind nicht genug Last zu tragen haben.
Dennoch machen wir niemandem einen Vorwurf. Die Krankheit ist nun einmal extrem selten und kompliziert, wir haben sie immer erst zu erklären, müssen stark sein, dürfen nicht nachgeben: Darios Arzt empfiehlt ein Medikament – es könnte helfen, seine noch aktiven Enzyme zu stärken, ist aber sehr teuer.
Wir kämpfen um unser Kind, ohne die üblichen Perspektiven
Die Krankenkasse sagt zunächst nein, weil das Medikament gar nicht für die Krankheit zugelassen ist. Dazu aber müsste es an 100 Patienten getestet werden. Letztlich überzeugt, dass es die wohl gar nicht gibt – die Kasse übernimmt die Kosten für ein Jahr. Dann müssen wir wieder aktiv werden, denn das Medikament wirkt, Dario geht es deutlich besser.
Wir sind keine normalen Eltern, wir kämpfen um unser Kind ohne die üblichen Perspektiven. Dario belohnt uns von Tag zu Tag mit seinem Lächeln, einer spontanen Umarmung, einem liebevollen „Mama“ und „Papa“. Wir kämpfen, um ihm trotz seiner schweren Krankheit eine möglichst normale Kindheit zu schenken. Es reicht doch, wenn unser Leben auf den Kopf gestellt wird.
Und wir kämpfen, um Dario und sein Lächeln zu retten. Wir wissen nicht, ob er eine Chance hat, mehr als seine Kindheit zu erleben. Aber wenn, werden wir sie nicht verstreichen lassen. Wir werden den Kopf nicht senken!
Hand in Hand in Deutschland e.V.
In Deutschland haben Birgit Hardt und Folker Quack die Selbsthilfegruppe „Hand in Hand“ gegründet. Sie ist ein eingetragener Verein und als gemeinnützig anerkannt. Der Austausch mit Betroffenen aus ganz Europa hat gezeigt, wie gut man sich gegenseitig unterstützen kann. Darum suchen sie jetzt Betroffene in Deutschland. Erste Patienten haben sich bereits gemeldet, das nächste europäische Familientreffen soll im Herbst in Bayern stattfinden.
Bei seltenen Krankheiten ist der Zusammenhalt besonders wichtig. In England, Spanien, Frankreich und Österreich gibt es bereits Selbsthilfegruppen für Tay-Sachs und Sandhoff. Sie tauschen sich aus, organisieren europaweite Familientreffen und unterstützen gemeinsam die Forschung an einer Gentherapie, die den Krankheitsverlauf zumindest stoppen könnte. Erste Erfolge lassen hoffen, dass Kindern mit diesen seltenen Stoffwechselstörungen schon bald besser geholfen werden kann. Doch es fehlt immer wieder am Geld für die Forschung, weil nur wenige Menschen betroffen sind.
Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland e.V.: info@tay-sachs-sandhoff.de www.tay-sachs-sandhoff.de Spendenkonto: IBAN: DE59 7905 0000 0047 7995 15 BIC: BYLADEM1SWU
Sandhoff und Tay-Sachs
Die beiden Krankheiten gehören zur Familie der lysosomalen Speicherkrankheiten. Ausgelöst durch einen Gendefekt fehlen in den Zellen ein oder zwei Enzyme, die normalerweise Abfallprodukte des Stoffwechsels zerlegen und aus der Zelle transportieren. Fehlen diese Enzyme oder ist ihre Funktion eingeschränkt, sammeln sich Fremdkörper in den Zellen an, die Zellen können nicht mehr richtig funktionieren und sterben ab. Insgesamt sind mittlerweile zirka 70 verschiedene lysosomale Speicherkrankheiten bekannt. Jede einzelne ist sehr selten, insgesamt aber sind viele Menschen betroffen. Gibt es eine Restaktivität, verläuft die Krankheit sehr langsam und wird oft erst nach vielen Jahren diagnostiziert.