Die Familie von Matteo bei der Familienkonferenz in Würzburg.

Matteo, eines unserer Tay-Sachs-Kinder, bekommt im Gegensatz zu einigen anderen, Miglustat nicht im Off-Label-Use von seiner Krankenkasse, der AOK Niedersachsen,  bezahlt. Bis vor das Bundesverfassungsgericht gingen Matteos Eltern Doch das nahm die Verfassungsbeschwerde nicht an, weil angeblich nicht ausreichend belegt worden sei, wie Matteos Grundrechte verletzt werden. Von einem „Todesstoß für jeden mit einer seltenen Erkrankung“ spricht dagegen unser Sozialanwalt Philip Koch, der Matteos Eltern in dem Fall vertreten hat. Er frage sich, was bleibe, wenn das Gericht die Erfahrungsberichte von Ärzten und Eltern nicht anerkenne. Matteos Mutter, Jasmin Wilker, sagte, sie fühle sich nach dem Beschluss sehr hilflos. „Die Aussagen unserer Ärzte scheinen nicht ausreichend zu sein. Meine Wahrnehmung scheint nicht zu zählen. Das heißt, ich weiß nicht mehr, wie ich darlegen soll, dass das Medikament Matteo hilft.“

„Seltene und gerade sehr seltene Erkrankungen haben keinerlei Lobby, nicht einmal vor dem höchsten Gericht“, sagt Folker Quack, Vorsitzender des Vereins Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff e.V..  „Doch wir werden jetzt erst recht für eine optimale Versorgung unserer Kinder kämpfen.“ Juristsich könne er das Urteil einfach nicht nachvollziehen, mache es ihn sprachlos, medizinisch sei es totaler Quatsch. So werde zum Beispiel ein anderes Medikament (Tanganil), das Matteo im Off-Label Use bereits bekommt, als Begründung angeführt, dass die Verbesserungen, die gesehen würden, von dorther kommen könnten. Tanganil aber könne nur vorübergehend einzelne Symptome lindern, einen positiven Effekt auf den Verlauf der Krankheit habe es nicht. Wohl aber Miglustat, das die Speichersubstanz, die unsere Kinder nicht abbauen können, reduziert und damit an die Wurzeln der Krankheit geht. Das sei, wie wenn man eine Kopfschmerztablette mit einer Chemotherapie vergleiche. Zugelassen sei Miglustat für ganz ähnliche Erkrankungen (Niemann-Pick und Morbus Gaucher), bei denen die Krankheit ebenfalls durch lysosomale Speicherungen von Spingolipiden ausgelöst und vorangetrieben werde. „Wir haben einfach zu wenige Patienten, die es vertragen, so dass sich eine Studie für die Pharmaindustrie in diesem Fall nicht lohnt.“

Birgit Hardt, die im Verein unter anderem die Familien betreut, ist tief enttäuscht über das Urteil der Gerichte. Es sei völlig unverständlich, dass das Medikament vielen Kindern genehmigt werde, und ausgerechnet bei Matteo nicht. Ihr eigener Sohn bekomme das Medikament seit fast zehn Jahren und alle Ärzte sind überzeugt, dass es ihm nur deshalb noch verhältnismäßig gut gehe. Oft würden die Kinder das Medikament gar nicht vertragen, müsste es wieder abgesetzt werden. „Wer eine so schreckliche Diagnose wie Tay-Sachs oder Morbus Sandhoff bekommt, ist heilfroh, wenn das einzige zur Verfügung stehende Medikament vertragen werde. „Das war bei Matteo der Fall und jetzt wird es ihm von Gerichten wieder genommen.“ Mit der Begründung, es würde die Solidargemeinschaft überfordern, die aber zeige bei einer Spendenaktion von Matteos Mutter gerade, wie solidarisch sie ist. Es sei bereits soviel Geld zusammengekommen, dass Matteo zumindest die nächsten Monate das Medikament noch bekommen könne.

Links

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgericht

Bericht des NDR

Bericht „Neue Osnabrücker Zeitung“

Bericht „Bild“-Zeitung

Bericht „Tagesschau“

Bericht RTL

Hier die ganze Geschichte von Matteo:  

DieMatteo leidet an Tay-Sachs. Schon kurz nach der Diagnose wandten sich seine Eltern an unsere Selbsthilfegruppe und kamen so unter anderem mit Dr. Eugen Mengel in Kontakt. Aufgrund seiner Mutation und seines spätinfantilen Verlaufs empfahl Dr. Mengel Matteos Eltern eine Behandlung mit dem Wirkstoff Miglustat. Das Medikament muss im Off-Label-Use verschrieben werden. Matteos behandelnde Ärzte schlossen sich dem an und verschrieben ihm Zavesca.

Noch im Dezember 2022 beantragten Matteos Eltern die Genehmigung des Off-Label-Use für das Medikament. Doch im Januar 2023 lehnte die Krankenkasse mit der Begründung ab, dass keine Ergebnisse einer Phase-2- oder Phase-3-Studie mit dem Medikament vorliegen würden und kein Anspruch auf die Medikation bestehen würde.

Matteos Eltern legten Widerspruch ein und mehrere ärztliche Stellungnahmen vor. In einer davon wies Dr. Mengel darauf hin, dass sich das Therapiefenster für Matteo bald schließen würde, wenn nicht mit der Behandlung begonnen werde könne. Dennoch schoben die AOK Niedersachsen und der Medizinische Dienst (MD) den Vorgang immer wieder hin und her. Schließlich wandten sich die verzweifelten Eltern an den Sozialanwalt Philip Koch, mit dem unsere Selbsthilfegruppe seit Jahren zusammenarbeitet. Dessen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz führte dazu, dass das Sozialgericht Osnabrück innerhalb von drei Tagen entschied, dass die Krankenkasse die Kosten für die Medikation mit Miglustat (Zavesca) übernehmen muss.

So konnte im Mai 2023 endlich mit der Therapie begonnen werden. Dazu Matteos Mutter Jasmin Wilker: „Zum Glück blieben Nebenwirkungen aus und wir bemerkten recht schnell positive Veränderungen bei Matteo. Zunächst fiel uns die bessere Augenkontrolle auf. Er war einfach viel wacher und hat seine Umwelt ganz anders wahrgenommen. Zudem fing er an, seine Arme und Beine wieder zu bewegen und sein Muskeltonus verbesserte sich.“ Dies konnte bei einem Termin im Juni 2023 im SPZ der Kinderklinik Osnabrück auch so von den Ärzten bestätigt werden. Auch Matteos Physiotherapeutin bescheinigte die positiven Entwicklungen. Zusammenfassend könne man sagen, dass Matteo nach Einnahme von Zavesca innerhalb von einigen Wochen so viele Fortschritte gemacht habe, wie zuvor in 18 Monaten nicht, so Jasmin Wilker.

Auch könne er seine Stimmungslage besser ausdrücken. Er könne wieder lachen, aber auch weinen. Wichtige Voraussetzungen für den jetzt geplanten Kindergartenbesuch.

Klage vor dem Bundesverfassungsgericht

Doch dann kam ein herber Rückschlag: Die Krankenkasse legte vor dem Landessozialgericht Niedersachen-Bremen Beschwerde gegen die einstweilige Anordnung des Sozialgerichtes Osnabrück ein und entgegen aller Erwartungen wurde dieser Beschwerde der Krankenkasse entsprochen und der für Matteo günstige Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück aufgehoben.

Für die Eltern ein Schock, keinesfalls wollen sie die Medikation einstellen. Zu groß seien die Erfolge. Anwalt Koch bereitet jetzt eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht vor. Denn es gebe einschlägige Entscheidungen, wonach Matteo mit dem Medikament im Off-Label-Use versorgt werden müsse.

Um die Versorgung bis dahin sicherzustellen, haben sich die Eltern an den Hersteller gewandt und hoffen nun auf dessen Unterstützung. Knapp 85 Euro kostet eine einzelne Tablette, Matteo benötigt jeden Tag 2 Stück davon. Einige Tabletten bekam Matteo aus dem Kreis unserer Familien, von Kindern, die es nicht vertragen hatten. Die  Entscheidung des Hertellers steht noch aus. Beim Bundesverfassungsgericht soll deshalb auch eine einstweilige Anordnung beantragt werden.

Ein fast unerträgliches Wechselbad der Gefühle

Jasmin Wilker

Jasmin Wilker beschreibt die aktuelle Situation mit einem fast unerträglichen Wechselbad der Gefühle. Wie schon nach der Diagnose machten sich in der kleinen Familie jetzt wieder Angst und Panik breit. Dann gebe es auch große Freude, wie gut Matteo sich im Moment entwickele, wie er wieder weinen und lachen könne, Fortschritte mache. Und dann wieder die große Angst, das Medikament, das ihm so gute helfe, könnte ihm schon bald genommen werden. Eigentlich sei das nicht auszuhalten, so Jasmin Wilker. Kraft gebe der Familie die Hilfen unseres Vereins „Hand in Hand“, Anwalt Philip Koch, der ihnen in dem langwierigen Rechtsstreit den Rücken freihält und vor allem die kleine Schwester, die Matteo inzwischen bekommen hat.

Auch im inzwischen beim Sozialgericht Osnabrück anhängigen Klageverfahren in der Hauptsache kommt es zu unnötigen Verzögerungen. So hat das Gericht seit der Klageerhebung im Juni 2023 nichts unternommen, um die Verwaltungsakte der Krankenkasse beizuziehen – dies, obwohl Rechtsanwalt Koch mehrfach betonte, dass Matteo aufgrund seiner fortschreitenden Krankheit keine Zeit bleibe. Erst auf massives Drängen hat sich das Sozialgericht nun knapp zwei Monate nach Klageerhebung dazu durchgerungen, die Klageschrift der AOK Niedersachsen nachweislich zuzustellen und die Verwaltungsakte anzufordern, so Koch.

Schon der Widerspruchsbescheid der Krankenkasse, den die Familie brauchte, um das Hauptsacheverfahren zu betreiben, wurde erst auf eine Untätigkeitsklage der Familie hin erlassen.

Folker Quack: „Ich bin fassungslos über dieses Vorgehen von Krankenkasse und Sozialgericht gegenüber einem schwerkranken Kind.“